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Boy Lornsen - 100. Geburtstag am 7. August 2022

Eine Würdigung durch Manfred Schlüter

Vor hundert Jahren wurde er geboren.
Der Schöpfer von Robbi, Tobbi und das Fliewatüüt war sein Leben lang in der Nähe des
Wassers zu Hause. Und seine Geschichten und Gedichte, nahezu alle schmecken nach
salziger Seeluft.

Ich stehe auf dem Markt in Brunsbüttel. Genauer gesagt in Brunsbüttel-Ort. Vor dem Haus Nummer 17. Hier hab ich zwei Jahre lang gelebt und gearbeitet. Als Grafik-Designer. Von 1976 bis 1978. Ich entwickelte Logos und Schriftzüge für Boutiquen und Fleischereifachgeschäfte, das Briefpapier eines Kurbades, Etiketten für Blechdosen, in denen Bratheringe eine vorübergehende Heimstatt finden sollten, und anderes mehr. Es war die Zeit, da südlich des Nord-Ostsee-Kanals Dörfer weichen mussten, damit die chemische Industrie sich ansiedeln konnte. Die Zeit, als im nahegelegenen Brokdorf Tausende gegen den Bau des Atomkraftwerks demonstrierten.
Im Erdgeschoss hauste Opa Scharp in seiner gut geheizten Stube. Oben froren wir. Im Winter zumindest. Wir schauten auf die Jakobuskirche in der Mitte des Marktgevierts. Hockten manchmal in Jürgensens Hotel. Dort zapfte Heinrich Ehlers das Bier. Und von 12:00 bis 14:00 Uhr gab’s Mittagstisch. Klaus-Henning Schade lebte am Markt, jener Weltreisende, der mit seinen Diavorträgen über Land zog. Es gab einen Kohlenhändler. „El Leiko“, den Bestatter. Pastorat und Post. Ein Stückchen weiter, in der Sackstraße, betrieben Anke und Hartmut Gerstenkorn das Kunsthaus, eine Galerie mit Tee- und Weinstube. Und noch ein Stückchen weiter wohnte der niederdeutsche Dichter Emil Hecker.
Ich folge der Sackstraße Richtung Zentrum. Süderstraße, Hafenstraße, Brunsbütteler Straße. Ich halte mich rechts und überquere bald ein schmales Flüsschen namens Braake. Schlender weiter auf der Koogstraße. Von den Kanalschleusen ruft ein Containerschiff herüber. Schließlich sehe ich das Schild: Schulstraße. Dort hat er gelebt. Boy Lornsen. Mit Margot, seiner Frau. Und dort haben wir uns kennengelernt.

Das war 1978. Karin und ich hatten Brunsbüttel verlassen und lebten seit einigen Monaten im Norden Dithmarschens. In Hillgroven, einer Streusiedlung an der Nordseeküste. Ich war nach wie vor als Grafiker tätig. Mein Traum allerdings war es, Bilder für Bücher zu gestalten. Also hatte ich meine Schreibmaschine zum Glühen gebracht und über fünfzig Verlage angeschrieben, hatte Arbeitsproben beigefügt und auf eine Chance gehofft. Vergeblich.
Und dann kam dieser Tag, der mein Leben verändern sollte. Die „Gerstenkörner“ waren bei uns und meinten, wir sollten doch einfach mitkommen. Sie waren nämlich eingeladen. Bei Boy und Margot Lornsen. Die schauten sich dann und wann bei ihnen im Kunsthaus um. Lornsen? Natürlich kannte ich den Namen. Boy Lornsen! Ich hatte einige seiner Bücher gelesen. Begegnet waren wir uns jedoch nie. Obwohl sie nur gut zwei Kilometer voneinander entfernt waren, die Brunsbütteler Schulstraße und unser ehemaliges Zuhause am alten Markt.
Wir sollten also einfach mitkommen. Hm. Ganz wohl war uns nicht. Schließlich waren wir nicht eingeladen. Aber nun standen wir vor diesem Haus mit der auffällig violetten Fassade. Als Gastgeschenk hatten wir Pilze dabei, deren Namen und Giftigkeitsgrad uns unbekannt waren. Wir hatten sie am Hillgrovener Außendeich gepflückt. Tintlinge, sagte Boy, die seien in jungem Stadium noch genießbar. Unsere Tintlinge waren jung. Na also. Wenig später schmorten sie in der Pfanne, in den Gläsern funkelte der Wein, die Stunden flogen dahin, und wir redeten und redeten. Sprachen über Gott und die Welt. Über die große Welt da draußen und unsere kleine Welt vor der Haustür. Auch über meinen Traum.

Monate später rief Boy an und erzählte von seinem Störtebeker, von Magister Wigbold und dem Schiefhals. Boy sprach von seinem langjährigen Kampf mit dem Seeräuber … und fragte, ob ich Lust hätte, seine Geschichte zu illustrieren: Gottes Freund und aller Welt Feind. Natürlich hatte ich! Bald saßen wir zusammen, segelten mit den Vitalienbrüdern über die Baltische See nach Wisby und Stockholm oder über Kattegat und Skagerrak rauf nach Bergen. Boy erzählte und las vor. Mit dieser Stimme, die sich anhörte, wie wenn der starke Ast eines Baumes im Sturmwind knarrte.
Ein wütender Wind kämmte die Baltische See. Von Westen her kam er, hetzte seine Wellenhunde nach Osten zu, daß denen der Schaumgeifer vor den Mäulern stand. Mit den Wolken trieb er Schindluder, mal jagte er sie zuhauf, mal scheuchte er sie auseinander, bis ihnen das Fell in Fetzen davonstob. Dazu ließ er noch seine Böen pfeifen, um zu zeigen, wer hier Herr und Meister war.
Was für eine Sprache! So bildhaft. Zupackend. Ich war fasziniert. Irgendwann war seine Geschichte auch meine Geschichte. Ideen begannen zu sprießen, wucherten in unseren Köpfen und über den Tisch, und jeder Gedanke des einen war fruchtbarer Boden für neue Ideen des anderen. Den groben Kurs hatten wir schnell abgesteckt: Keine Illustrationen, die lediglich das Textgeschehen wiederholen! Und keine „action“-Bilder, aus denen Hanseblut nur so spritzt! Aber: Wie sieht eine Kogge aus, was ist ein Krähennest, wo liegt Santiago de Compostela, und wie genau muss man sich die Dänenfalle des Magister Wigbold im Eis vor Dalarö vorstellen? Diese Fragen mussten beantwortet werden. Und dabei, das war uns inzwischen klar, musste das Bild den Text unterstützen. In den folgenden Wochen sahen wir uns häufiger. Mittlerweile hatten die Bilder, die in unseren Köpfen herumschwirrten, bereits auf Papier Gestalt angenommen. Obwohl sich diese ersten Skizzen und Entwürfe im Lauf der Zeit noch hier und da verändern sollten, entsprachen sie im Wesentlichen schon den späteren Illustrationen. Im Grunde hatten wir ja auch alles besprochen. 1980 ist unser Störtebeker erschienen. Weitere Bücher sollten folgen. Es war der Beginn einer Zusammenarbeit, in der ich ungeheuer viel gelernt habe. In der Arbeit. Und als Mensch.

Ich lasse das Auto in Niebüll stehen und steige in den Zug Richtung Westerland. „Bottrop Mitte“, hätte Boy gesagt. Er mochte Westerland nicht. Die Regionalbahn ruckelt über den Hindenburg-Damm. Links Wasser. Rechts Wasser. Nach einer knappen halben
Stunde die ersten Dünen. Sylt! Die langgestreckte Nordseeinsel. Der erste Halt: Morsum. Dann Keitum.
Dort steige ich aus. Folge der Bahnhofstraße, dann dem Jens-Mungard-Wai, halte mich links und stoße auf den Alten Kirchenweg. Nach einigen hundert Metern sehe ich die Kirche St. Severin von 1216. Ich öffne das weiße hölzerne Tor und stehe hundert Schritte später an seinem Grab. Boy J. Lornsen. 1922 + 1995. Das Grabmal hat er selbst gestaltet. Eine Windrose hat er aus dem Stein herausgehauen. Auch das konnte er. Schließlich war er nicht nur in der Welt der Bücher zu Hause. Er wusste auch mit Hammer, Säge, Beitel, Meißel umzugehen, hat als Zimmermann gearbeitet und Plastik an der Landeskunstschule Hannover studiert. War als Steinmetz und Steinbildhauer mit eigener Werkstatt in Brunsbüttel tätig. In der Wurtleutetweute. Die Straße heißt wirklich so. Und wenn ich mich richtig erinnere, hat er sie in einem seiner Bücher verewigt.

Kapitän Albert Paul Lornsen zum Gedächtnis. Diese Worte hat Boy den zwölf Kapiteln in Auf Kaperfahrt mit der „Friedlichen Jenny“ vorangestellt. Kapitän Albert Paul Lornsen, das war Boys Vater. Der, so ist zu lesen, segelte auf einem Viermaster namens „Herbert“ und umrundete mehrmals Kap Hoorn. Auch Boy war dem salzigen Nass verbunden. Obwohl er nicht zur See fuhr. Aber er war Mitglied der Brunsbütteler Seglervereinigung. Immerhin. Und er gönnte sich nach anstrengenden Lesereisen „einen Tag auf See“. So sagte er zumindest. Irgendwann wurde mir bewusst, dass Boy diesen Tag nicht an Bord eines Schiffes verbrachte, sondern zu Haus im Bett. Und das stand immer in der Nähe des Wassers. Sein Leben lang. Die ersten Jahre auf der schlanken Nordseeinsel. Dann in Brunsbüttel, der Schleusenstadt am Nord-Ostsee-Kanal, wo Vater Albert Paul als Lotse tätig war. Schließlich wieder auf der Insel. Und seine Geschichten und Gedichte, nahezu alle spielen an der Küste und schmecken nach Salzwasser.
Ich denke - beispielsweise - an den Glücklichen Matthias, den Leuchtturmwärter in Robbi, Tobbi und das Fliewatüüt und sein haarsträubendes Seemannsgarn: Der Stille Ozean ist zeitweise über die Maßen stürmisch. Dann rasen Stürme darüber hin, die man Taifune nennt. Sie türmen haushohe Wogen auf und peitschen das Wasser zu Schaum, dass es wie in einer Waschküche dampft und brodelt. Aber ich wollte ja von Annarita berichten … Sie war eins von diesen gefährlichen Krakenscheusalen, deren Fangarme so lang sind wie Schiffsmasten und auch so dick. Annaritas Fangarme waren sogar noch eine Idee dicker. Sie war so gefräßig wie eine ganze Herde ausgewachsener Elefanten zusammen. Aber das war noch nicht das Schlimmste an ihr: Sie hatte die unschöne Angewohnheit, ihre riesenlangen, riesenstarken Riesenkrakenarme um ganze Schiffe zu schlingen. Und wenn sie sich mit ihren bratpfannengroßen Saugnäpfen festgelutscht hatte, brauste sie mit den unglücklichen Schiffen ab in die Tiefe (…) Potz Kakerlaken und Kannibalen!

Ich denke an die Deutschstunde in ABAKUS AN mini-MAX. Da ist selbst an Land - in einem Klassenzimmer - leichter Seegang zu spüren. Boy lässt Fräulein Labadan mit viel Fahrt und leichter Schräglage in die Klasse sausen: Ihr weißer Pulli leuchtete; ihre Haare wehten wie ein Wimpel. Man hätte sie fast für eine schnittige Segeljacht halten können, die hoch am Wind gegen den Ebbstrom ankreuzt. Nur die Bugwelle vor den Füßen fehlte. Und nachdem mini-MAX den Professor Benedict C Punkt Frieder auf seine „Makrele“ gelockt hat, zeigen die Segel bei einer feinen Brise pralle Bäuche: Alle Schoten sind straff gespannt, und der Stander oben am Masttopp knattert eine verwegene Melodie. Dann bekommt die „Makrele“ Flügel. Sie möchte sich selbst überholen, speit vorn Schaum und zieht achtern eine schimmernde Blasenspur hinter sich her. Boy weiht uns ganz nebenbei - während das Geschehen seinen Lauf nimmt - in die Kunst des Segelns ein. Auffieren, so lesen wir, heißt der Schot Lose geben. Wir lernen, dass es an Bord keine Strippen gibt, sondern Schoten, Stropps, Festmacher, Wanten, Stagen, Enden, Beiholer, Fallen und Hahnepots. Dass es Fock und Großsegel gibt. Und schließlich erfahren wir, wie man einen Butt mit dem Fuß fängt und fachmännisch räuchert …

Ich bin im Niedersächsischen unterwegs. Fahre von Kirchlinteln auf der Hauptstraße Richtung Osten. Kein Meeresrauschen ist zu hören. Kein Möwenschrei. Wiesen und Äcker. Schließlich ein Sportplatz. Kohlenförde. Und rechts erkenne ich Kösters Gasthof. Der ist geschlossen. Seit Jahren schon. Schade. Boy kannte die Wirtsleute, hat dort des Öfteren bei Lesereisen Quartier genommen. Er schätzte die Bodenständigkeit des Lokals. Verachtete dekadenten „Pille Palle“, wie er zu sagen pflegte. Und als wir Anfang der 1980er Jahre auf dem Weg zu unserem „Vogelmeier“ waren, hat Boy sich erinnert. Erst „dudelten“ wir ein wenig durch die Gegend (Boy war gern auf schmalen Straßen mit dem Blechmobil unterwegs). Und dann hockten wir in der Gaststube, aßen hausgeschlachtete Mettwurst auf grobem Brot, tranken roten Wein und schliefen bald im breiten Doppelbett.

(...den kompletten Würdigungstext können Sie im untenstehenden Dokument nachlesen...)
 



Die kursiv gesetzten Texte
sind folgenden Büchern von Boy Lornsen entnommen:
„Robbi, Tobbi und das Fliewatüüt“, Thienemann, Stuttgart 1967
Illustrationen von F.J. Tripp
„Gottes Freund und aller Welt Feind“. Thienemann, Stuttgart 1980 *
„Auf Kaperfahrt mit der Friedlichen Jenny“. Thienemann, Stuttgart 1982 *
„ABAKUS an mini-MAX“. Thienemann, Stuttgart 1970
Illustrationen von Boy Lornsen
„Williwitt und Fischermann“. Arena, Würzburg 1983 *
„Williwitt und der große Sturm“. Arena, Würzburg 1983 *
„Williwitt und Vogelmeier“. Arena, Würzburg 1984 *
Die drei Bände sind enthalten im Sammelband
„Wasser, Wind und Williwitt“. Arena, Würzburg 1983 *
„Nis Puk in der Luk“. Oetinger, Hamburg 1985 *
„Nis Puk - Mit der Schule stimmt was nicht“. Oetinger, Hamburg 1988 *
„Nis Puk und die Wintermacher“. Oetinger, Hamburg 1993 *
„Traugott und das Wildschwein“. Arena, Würzburg 1985 *
„Die Möwe und der Gartenzwerg“. Thienemann, Stuttgart 1982 *
„Das Wrack vor der Küste und andere Erzählungen“ (darin „Der Nebelaal“).
Lühr & Dircks, Quickborn, Hamburg 1993
„Seenotkreuzer Adolph Bermpohl“ (darin „Seenot“). Boyens, Heide 1987 *
„Sien Schöpfung un wat achterno keem“. Quickborn, Hamburg 1991
Das Zitat von Walter Jens
ist seinem Nachwort in folgendem Werk entnommen:
Boy Lornsen „Geschichten aus Schleswig-Holstein“.
herausgegeben von Frank Trende. Boyens, Heide 2007
* Illustrationen von Manfred Schlüter
Bedauerlicherweise sind zahlreiche Bücher vergriffen
und nur noch antiquarisch zu bekommen.

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